Mythos Lehmschicht

Eines der geflügelten Worte rund um das Thema Management ist Lehmschicht. Da weiß auch jeder sofort, was, oder besser noch, wer gemeint ist.

Ich habe zwar im Titel provokativ „Mythos“ geschrieben, aber eigentlich meine ich vielmehr, dass das damit zusammenhängende Erleben mit dem Wort Lehmschicht eine unselige und zutiefst unfaire Metapher bekommt. Grundsätzlich ist ja so ein Wort gar nicht negativ; eine Lehmschicht kann in einem (Öko-) System sehr nützlich sein. In unserem Kontext wird es aber gezielt negativ bis hämisch konnotiert, weil damit auch ein verstehbarer Ärger und Frust verbunden ist. So gings mir auch. Ein verletzter Teil von mir schaut so auf diese beobachtbaren Verhaltensmuster und will sie abwerten.

Interessant ist auch, dass die Betroffenen sich selbst idR gar nicht so wahrnehmen und diese Zuschreibung eher als Kränkung erleben. Im Gegenteil: sie erleben sich als äußerst aktiv in beide Richtungen.

Ettliche Jahre Change-Management-Frust und ein paar Ausbildungen weiter sehe ich es so: Die Zuschreibung so einer Negativ-Eigenschaft beruht m.E. auf einem fundamentalen Missverständnis hierarchischer Sozial-Systeme. Es rührt her von einer linear-kausalen Betrachtung der Organisation, wie sie idealtypisch verstanden wird und sich in den meisten klassischen Change-Ansätzen widerspiegelt (was einer der Gründe ist, warum diese oft scheitern).

Die dem mittleren Management zugewiesene Eigenschaft „Lehmschicht“ (gerne auch mit ä) impliziert in der Regel ja auch eine flächendeckende Aberkennung der Kompetenz oder schlichtweg Widerwille/ Verweigerung, den Willen des Top-Managements umzusetzen. Da sich das aber irritierenderweise wie ein Virus durch die gesamte westliche Industriewelt zieht müsste man eigentlich sofort ins Nachdenken kommen. Bei mir hats etwas gedauert.

Den wahrgenommenen Effekt gibt es freilich wirklich, und nicht zu knapp. Nicht umsonst geben viele Top-Manager offen oder im Stillen zu, dass ihr Einfluss auf ihre Organisation gnadenlos überschätzt wird. Und dieser Satz aus der Basis „die da oben sollen doch endlich mal …“ (durchgreifen, ruhig sein, eine Ansage machen, irgendwas vorleben, …) in der Hoffnung geäußert, dass sich darüber für sie etwas spürbar verändert ist zwar rührend, aber sinnlos. Selbst wenn die TOP- M’s täten (und einige tun ja sogar) bleibt es idR recht wirkungsarm.

Es gibt den Effekt auch in umgekehrter Richtung, und zwar bzgl. der Informationen, die nach oben fließen (sollten). Meist herrscht in den höheren Hierarchieebenen große Verblüffung darüber, dass ihnen keiner etwas erzählt. Weniger Reflektierte nehmen nicht mal das wahr. Was wiederum Einfluss auf die frustvolle (beinahe hätte ich ‚lustvolle‘ geschrieben) Zuschreibung „Lehmschicht“ hat.

Woran liegt das?

Die Verwechslung ist, wie oben schon angedeutet, dass es sich eben nicht um ein mechanistisch-lineares, triviales Hierarchie-System wie zu Henry-Fords Zeiten handelt, sondern wir es spätestens seit den 80er Jahren mit einem zunehmend sozial-komplexen, fachlich-komplexen, markt-komplexen und was-weiß-ich-nicht-noch-alles-komplexen System zu tun haben, was ja an den Unternehmensgrenzen in keinster Weise Halt macht, weder wirtschaftlich noch privat. Die größer werdende Command & Control Illusionsblase ist längst geplatzt, aber weder die Berater-Welt noch die Management-Welt will es sich wirklich und offen eingestehen. Die Konsequenz daraus wäre auch brutal: die meisten Management-Techniken und Change-Ansätze müssten wir an den Nagel der Geschichte hängen. Diese Idee z.B. , dass oben etwas Sinnstiftendes angesagt wird, was dann Ebene für Ebene bis zur Basis runtergebrochen und übersetzt wird (vielleicht mit einer Zielvereinbarungs-Systematik) ist wirklich nur noch zum Produzieren von simpler bis komplizierter Massenware tauglich.

Wir stehen „nackig“ vor den Herausforderungen unserer großen und alten, komplexen Organisationen in einer neuen Welt.

Es ist ja gar nicht so, dass die Meisten nicht längst verstanden hätten, dass sich die Dinge grundlegend verändern müssten. Aber auch hier greifen trotz allem oft sehr mechanistische Glaubenssätze wie zum Beispiel: Alle müssen mit einem neuen Mindset „ausgestattet werden“ und das erreichen wir durch Kulturprogramme, Verkündigungs-Events, Schulungen und Programme.

Meine Hypothese: Das gewünschte Mindset ist in vielen Menschen längst vorhanden, aber es bleibt in der bestehenden Organisation überwiegend unwirksam. Es schläft sozusagen und wartet sehnsüchtig auf bessere Bedingungen. Es ist, als würde man sagen: alle sollen doch jetzt mal Badekleidung anziehen während es draußen stürmt und schneit. Einige wenige Verrückte machen das sogar, aber die Mehrheit wird den Wintermantel anbehalten; aus gutem Grund.

Tatsächlich wirksam ist hingegen ein Mindset, das die persönlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Verbundenheit, Erfolg, Ansehen etc. nicht wesentlich gefährdet oder besser noch: bedient und beschützt (der Wintermantel). Vollständig menschlich und verstehbar. Wann immer ich das ignoriere, wandle ich in einer Traumwelt (in dem Zusammenhang könnte ich mich gleich noch über mein nächste Unwort hermachen: Komfort-Zone. Damit wird idR die Botschaft ‚Bequemlichkeit‘ transportiert, was ich in keinster Weise zutreffend noch fair finde. Die Mechanismen der Organisation sind nämlich oft so, dass der nächste Schritt aus dem sicheren Bereich eher ins Verderben führt).

Wenn man aus einer Organisation die mittlere Management-Ebene entfernen würde oder sie schlichtweg nicht mehr diese beklagte Funktion ausüben würde, dann wäre das, als würde man bei einem Auto die Stoßdämpfer ausbauen. Der Fahrer wäre fassungslos über das Fahrverhalten des Autos und die Straßenbedinungen. Er würde 1:1 jede Welle, jeden Stein, jedes Schlagloch spüren und würde automatisch merklich langsamer und achtsamer fahren. Er wäre viel mehr mit der Straße im Kontakt. Bin nicht sicher, ob ich diesen Vergleich weiter ausschmücken möchte, aber auf dieser Ebene finde ich ihn recht passend.

Noch eine Hypothese: würde man die Menschen austauschen, also Top-Manager ins Mittel-Management und umgekehrt, würde sich der Effekt nach kurzer zeit wieder einstellen. Ein Reflex der Organisation; des Systems. Eine Notwendigkeit.

Was ist denn jetzt die Lösung?

Offen gestanden wird die Anzahl meiner Antworten von Jahr zu Jahr kleiner. Mittlerweile :

Wir müssen über alle Ebenen hinweg einen transparenten und ehrlichen Diskurs darüber führen, wo das Unternehmen sich alles hin entwickeln soll(te), wie es mit welcher Geschwindigkeit dorthin kommen kann und was wir alles als nächstes dafür tun wollen.

Dann können Menschen, die bisher Unternehmensstrategie und Wertschöpfung „voreinander beschützt“ haben genau dafür gehen, diesen Diskurs zu betreiben (oder andere tolle Aufgaben wahrnehmen).

Danke für’s Lesen! Widersprüche, Ergänzungen und Anerkennung sind willkommen 🙂

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