Rollen, Regeln und Prozesse adé?

In vielen Beratungen habe ich dabei geholfen, Prozesse besser zu beschreiben, Rollen genauer zu definieren und Regeln zu vereinbaren. Alles in dem Vertrauen, dass das zu einer Verbesserung der Zusammenarbeit und der Produktivität führt. Und tatsächlich, wenn es vorher wenig bis gar nichts gab, hat das zu Verbesserungen geführt, weil z.B. Chaos und Intransparenz reduziert wurden, Menschen anfingen miteinander zu reden sowie ein größeres Ganzes zu sehen. In vielen Fällen jedoch stellte sich keine nachhaltige Verbesserung ein; nicht selten sogar eine Verschlechterung. Was ist da los? In diesem Blog beschäftige ich mich mit der Frage, wann, wo und wie das übliche Verständnis von Prozessen, Rollen und Regeln hilfreich und zieldienlich ist und wann wir etwas zum Teil ganz anderes brauchen.

Einstieg

Was mir inzwischen sehr bei der Lösungssuche hilft, ist eine Differenzierung hinsichtlich der Art der Wertschöpfung.

Die folgende Tabelle zeigt eine Extremfall-Betrachtung anhand drei beispielhafter Kriterien:

Wertschöpfung Typ 1Wertschöpfung Typ 2
Produkt, Ergebnis
[das WAS]
vollständig bekannt und immer gleichnicht bekannt oder ständigen Änderungen unterworfen
Wissen, Technologie
[das WIE]
ausreichend vorhandennicht vorhanden
Störungen, Überraschungentreten kaum auftreten sehr häufig auf

Im Laufe der Zeit haben mich 4 verschiedene Ansätze inspiriert:

AnsatzWertschöpfung Typ 1Wertschöpfung Typ 2
Dynamikrobuste Organisation (Gerhard Wohland)Routine/ BlauDynamik/ Rot
Ambidextrie – Exploitation/ Exploration (?)ExploitationExploration
Wertschöpfung der Norm und der Ausnahme (intrinsifyMe)Wertschöpfung der NormWertschöpfung der Ausnahme
Cynefin-Framework (Dave Snowden) / gute HandlungsorientierungSimpel (bis kompliziert)(komplex bis) chaotisch

In allen Ansätzen geht es darum, wie wir damit umgehen können, wenn wir VUCA-Bedingungen haben.

Ich verwende zurzeit am liebsten die IntrinsifyMe-Begriffe Wertschöpfung der Norm und Wertschöpfung der Ausnahme. In Darstellungen übernehme ich gern die Wohland-Farben blau und rot. Sehr hilfreich finde ich auch die unter Agilisten gern verwendete Stacey-Matrix.

Alles in allem arbeite ich zurzeit verstärkt mit dieser Darstellung:

Wertschöpfung der Norm (blau)

Wenn klar ist, was erzeugt werden soll und wenn die Abläufe in hohem Maße immer gleich und mit wenigen Störungen verlaufen, hohe Vorhersagbarkeit und wenig Überraschungen vorliegen, dann haben wir eine Wertschöpfung der Norm. Die Dinge sind simpel bis kompliziert. Wohland spricht von dem blauen Anteil der Unternehmensfunktion. Hier funktionieren die klassischen, tayloristischen Prinzipien und Praktiken excellent.

Abläufe lassen sich relativ leicht in verlässlichen Prozessen darstellen, vermitteln und genau so abarbeiten. Prozessabschnitte können festen Rollen zugeordnet werden und diese Rollen wiederum Menschen die dafür ausgebildet wurden. Dazu ein geeignetes Kennzahlen-System und immer mal wieder KVP und man hat eine gut geölte Wertschöpfungs-Maschine (so zumindest die Theorie; in der Praxis ist es dann oft doch nicht so trivial).

Das ist hervorragend, bis wir es hiermit zu tun bekommen:

Wertschöpfung der Ausnahme (rot)

Mit zunehmender Unklarheit, was erzeugt werden soll und mit abnehmender Vorhersagbarkeit und Wiederholbarkeit der notwendigen Tätigkeiten dabei, mit zunehmenden Störungen und Überraschungen, mit zunehmender Komplexität und Veränderlichkeit der Situation sowie mit hohem Maß an Mehrdeutigkeit haben wir eine Wertschöpfung der Ausnahme. Die Zusammenhänge sind komplex bis chaotisch. Wohland spricht vom lebendigen, dynamikrobusten roten Anteil einer Unternehmensfunktion. Der Übergang ist oft fließend, wechselhaft oder teils so teils so. Eine Unterscheidung und ein adäquates Reagieren darauf ist idR schwierig.

Und dann beobachten wir oft:

  • Prozesse werden immer weniger eingehalten. Regeln, Standards und Normen werden umgangen
  • Häufig wird parallel in informellen Netzwerken weiter an der Wertschöpfung gearbeitet
  • Häufig werden aber auch Zuständigkeiten von sich gewiesen oder darum gekämpft und die Schuld bei anderen gesehen (lateral, vertikal, longitudinal)

Hinzu kommen ermüdende und frustrierende Diskussionen, weil unterschiedlichste Sichtweisen und Perspektiven auf den Wertstrom unvereinbar nebeneinander stehen und nicht mal klar ist, dass es unterschiedliche Sichtweisen sind. Begriffe werden immer verschwommener und wir decken erst durch hartnäckiges Nachfragen auf, dass alle Obst sagen und die einen den konkreten Apfel, die anderen die Gesamtheit aller Früchte meinen.

Lösungsversuche sehen häufig so aus: Prozesse werden noch genauer definiert, mehr Standards, Normen und Regeln vereinbart, Rollen und Verantwortungen noch genauer definiert und voneinander abgegrenzt (Funktionsoptimierung). Disziplin wird eingefordert. Aber auch das führt oft nicht zu einer Verbesserung.

Die Verunsicherung und Anspannung zwischen den Menschen steigt; Konflikte verhärten sich. Management versucht steuernd einzugreifen, zieht sich hilflos zurück oder verheddert sich. Top-Management verliert das Vertrauen ins Gelingen und versucht durch Micromanagement zu helfen. Die Menschen sind unzufrieden, frustriert, erschöpft und das Verhältnis Wertschöpfung/Blindleistung verschlechtert sich.

Weil sich die Situation trotz intensivster Bemühungen nicht verbessert, können nur noch die Menschen mit ihrem Denken, Fühlen und Verhalten das Problem sein. Also setzt man Hoffnung  in Teambuilding-Maßnahmen und in Appelle, das Verhalten zu verändern und eine andere Kultur zu leben. In der Regel nur mit kurzem Erfolg. Die Wirklichkeit des Alltags ist stärker als jeder gute Vorsatz.

Das Problem ist, dass wir versuchen, rote Problem mit blauen Werkzeugen zu lösen.

Es ist, als würde ein Radrennprofi mit seinem Rennrad offroad gehen. Er ist mit seinem Rad und seinem Können perfekt für ein Straßenrennen (blaue Situation); es ist die Hölle für ihn, wenn er damit mit anderen zusammen dicht an dicht durch einen Wald rasen soll (rote Situation).

Warum klassische Rollen in roten Situationen nicht funktionieren

Rollen, so wie wir sie üblicherweise verwenden, mit klar definierten Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortungen (AKV), sind sehr blaue Praktiken. Diese können dem roten Teil der Herausforderungen und den Menschen darin nicht gerecht werden, niemals. Schauen wir etwas tiefer hinein.

  • Wir Menschen sind hochindividuelle Wesen mit sehr spezifischen Kompetenzen und Interessen. Dort und nur dort sind wir wirklich gut. Dort schöpfen wir Lebensenergie und geben Energie wieder ins System. Dort wo wir überfordert sind oder wo wir etwas tun sollen, das uns keine Freude macht, oder wo wir etwas tun sollen in dem wir keinen Sinn sehen, erleben wir Energieentzug, unsere Leistungsfähigkeit sinkt.
  • Wenn ich also eine (von irgendjemandem definierte) Rolle einnehme, in der ich Dinge, die ich gerne tun würde, nicht tun darf und Dinge tun muss, die mir nicht liegen, dann ist meine Demotivation unabwendbar. Mit Bonifizierungen wird das lediglich verzögert. Mein Unvermögen bei bestimmten Tätigkeiten und meine Demotivation vermindern meine Performance signifikant; bis dahin, dass ich krank werde.
  • Der zweite wesentliche Performanceverlust entsteht durch die Nicht-Definierbarkeit vieler Tätigkeiten, die in den Vorgängen auftauchen und notwendig werden, manchmal nur einmalig, aber mindestens jedesmal anders. Unmöglich, diese in RASI-Charts abzubilden.
  • Dann noch die Aufgaben, die von allen Beteiligten ungeliebt sind und deswegen mehr schlecht als recht bearbeitet werden.
  • Was natürlich auch in die Bilanz gehört ist der Aufwand, der notwendig ist, um die Prozesse und Rollen (immer und immer wieder) zu beschreiben und einzuführen.
  • Ach ja, beinahe vergessen: die ganzen nicht-wertschöpfenden Aktivitäten, die notwendig sind, um nachweisen zu können, dass man selber seinen Job richtig macht (und die Anderen nicht).

Ich frage mich manchmal, zu was wir imstande wären, wenn das alles nicht wäre. Ich bezeichne das gerne als „die Potenziale unseres Unternehmens“. Vermutlich würde Volkswagen raketenartig durch die Decke gehen.

Dennoch Verständnis für Rollenbefürworter

Ich diskutiere gerne über das Thema Rollen und erlebe oft, dass auf klare Definitionen bestanden wird. Mittlerweile sind mir eigene Situationen in Erinnerung gekommen, in denen auch ich diesen Reflex hatte. Was war da los? Eigentlich liebe ich es doch, wenn man im Flow miteinander ist und immer irgendjemand eine Aufgabe annimmt oder man sich die Bälle zuspielt… Das passierte bei mir immer dann, wenn jemand versuchte, unbequeme Aufgaben abzuladen und ich mich nicht gut dagegen wehren konnte. Oder die Sichtweisen auf das wie und was waren so unterschiedlich, dass ein gemeinsames Vorgehen aussichtslos erschien. Dann kam dieser Wunsch nach Abgrenzung in mir auf. Meine Vermutung ist, dass viele im Unternehmen in ähnlichen Situationen sind. Mindestens, dass sie auf jeden Fall gute Gründe haben können, Abgrenzung einzufordern.

Fokus auf Sinn, Menschen und deren Interaktionen

Komplexe Herausforderungen lassen sich nicht mit einfachen oder komplizierten Ansätzen bewältigen. Das ist eine unzulässige Übersimplifizierung der Situation mit vielen ungünstigen Auswirkungen. Was wir brauchen sind

  • Menschen mit organisch gewachsenen Kompetenzen (keine Kompetenzprofile)
  • Menschen mit intrinsischen Interessen und Visionen (keine bonifizierten Interessen)
  • Menschen, die sich intensiv mit den Zusammenhängen auseinandersetzen, nach Lösungen suchen und bereit sind, mühsam errungenes Wissen auch wieder in Frage zu stellen (keine Wissenden)
  • Menschen, die über den Wertstrom oder den Kontext hinweg stark vernetzt und in intensivem Austausch mit anderen Könnern sind (keine Abgrenzungen)
  • Menschen, die sich dynamisch zu sinnstiftenden, wertstromorientierten und vernetzten Teams zusammenschließen (keine Organisationseinheiten)
  • Menschen, die grundlegende agile Prinzipien wie Fokus, Transparenz, arbeiten in kurzen Zyklen etc. verinnerlicht haben (keine starren Rollen, Regeln und Prozess)

Verrückterweise haben wir das alles längst. Wir würden nicht mehr existieren, wenn nicht so viele Menschen genau so arbeiten würden. Allerdings unter dem Radar und unter großen Schmerzen (weil die formale Organisation hier gegen den Strich gebürstet wird) und einer dafür notwendigen hohen Intransparenz. Sie engagieren sich und setzen sich ein für das große Ganze und riskieren Unmut und Ärger.

Eine neue form der Arbeit, Wertschöpfung²

Wir sind nicht mehr in erster Linie einer Organisationseinheit und den Hierarchien verpflichtet, sondern einem WOFÜR, einem Sinn, einem Produkt, einer Wertschöpfung, einem Kunden. Das wird in einem hierarchie und OE-übergreifenden, kokreativen Prozess definiert.

Ins Geschichtsbuch gehören deswegen z.B. kaskadierte, organisationsspezifische und am Ende individuelle Zielvereinbarungen (uvm). Sie sind in einer blauen Welt vielleicht noch hilfreich, in unserer roten Welt sind sie wie eine schmerzhafter Arthrose. Was auch ins Geschichtsbuch gehört ist Macht-Distanz und die ungünstigen Folgen davon; wir arbeiten mit unterschiedlichen Kompetenzen und unterschiedlichen Perspektiven an derselben Sache.

Wenn wir (wie Google) nicht 10% sondern 10x besser werden wollen, dann geht das aus meiner Sicht nur so.

Ich glaube, dass wir auf dem Weg sind, sonst hätte ich nicht die Energie, das alles hier zu schreiben. Die Welt da draußen ist auf jeden Fall auf dem Weg!

Was mich hoffen lässt ist, dass ich in meiner Arbeit auf immer mehr Menschen und Beispiele treffe, wo dieser Samen längst gesät oder aufgegangen ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.